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Die Gerichtsmedizin lag mitten auf dem Gelände des Karolinska-Instituts und war wie die anderen Gebäude ein flaches Haus aus roten Ziegeln in einer mühsam begrünten Umgebung. Um diese Zeit war der Anblick erträglich, aber im Winter sahen die roten Ziegel besonders grau aus.

Sofi stöckelte in ihren hohen Schuhen den Gang entlang, dem die Hausleitung das Flair eines Kindergartens verliehen hatte, damit es die Angehörigen der Toten behaglicher hatten. Auch der Aufbahrungsraum war gemütlich eingerichtet.

Überall hatte die norwegische Putzfrau Margit Zettel in Nachahmungen der schwedischen Sprache aufgehängt, worin sie die Besucher unter besonderer Berücksichtigung der Polizisten darum bat, möglichst wenig Schmutz zu machen. Nach all den Jahren in Stockholm weigerte sich Margit immer noch vor der Einsicht, dass die Polizei hier nicht Politi hieß.

Sofi nutzt sofort die Möglichkeit, sich ihre engen Schuhe auszuziehen, und klopfte an die offene Tür. Suunaat Kjærgaard blickte von einem Mikroskopbildschirm auf. Sie stammte aus Westgrönland, hatte ihre Heimat aber früh verlassen und die höhere Schule in Chicago abgeschlossen, wo aus ihr auch eine Rechtsmedizinerin geworden war. Was sie nach Stockholm gezogen war, hatte ihr wohl nicht mal der Personalchef des Karolinska-Institutes entlocken können, aber jeder war froh, dass sie die Rechtsmedizin leiten würde, wenn Hans Ekeblad in einigen Wochen in den Ruhestand ging. Ihre Handbewegungen, bei denen ein Klemmbrett und ein Kugelschreiber tragende Rollen spielten, erinnerten an amerikanischen Krankenhausserien, aber sonst kam einem jede Begegnung mit ihr so vor, als stieße man hinter einer Schneewehe auf eine einsame Robbenjägerin.

Suunaats Blick blieb an den Schuhen hängen, die an Sofis Fingern baumelten.

Sofi zuckte mit den Schultern. „Auf dem Zettel steht, man soll die Schuhe ausziehen und keinen Dreck machen.“

„Was für ein Zettel?“

„Da hängen überall Zettel. Von Margit.“

Suunaat konnte die Miene in ihrem grönländischen Gesicht wie einen Theatervorhang fallen lassen. Sie stand auf und ging an Sofi vorbei in den Gang.

„Überall Zettel“, sagte sie beim Zurückkommen gelassen. „Sehr unheimlich!“

Suunaat konnte durch reine Geisteskraft Menschen dazu bewegen, ihr zu folgen, ohne dazu auf Gesten angewiesen zu sein. Und so folgte ihr Sofi durch den Gang zur Teeküche. Hans Ekeblad, der Leiter der Rechtsmedizin, stand an der Anrichte und las in einem Endlosausdruck, während er in seinem magenfreundlichen Getreidekaffee rührte. Niemand durfte hier das Wort Getreidekaffee aussprechen, denn Hans hatte vier Jahre gebraucht, den widerlichen Malzgeschmack in seinem Gehirn zu eliminieren. Nur eine unbedachte Formulierung und er würde wieder am Anfang stehen.

„Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen“, meinte Hans. Er war der erste Mensch an diesem Abend, der nicht keinen Kommentar über ihr Kleid abgab.

„Nein danke“, sagte Sofi, die schon einmal Hans’ Getreidekaffee probiert hatte.

Suunaat schenkte sich Tee aus einer Thermoskanne ein und warf Sofi einen leidenden Blick zu.

„Wer ist Margit?“, fragte Suunaat ihren Chef.

„Margit?“

„Sie hat hier überall Zettel aufgehängt.“

„Ach so, Margit. Die hat mal hier gearbeitet und vor Weihnachten gekündigt. Weil sich niemand die Schuhe ausgezogen hat, glaube ich. Wir haben hier ein Problem, Sofi. Ihr könnt mit hoher Sicherheit davon ausgehen, dass die Frau nicht in Schweden gelebt hat. Wir haben bereits alle Datenbanken von Krankenhäusern und Krankenkassen überprüft.“

„Nur die im Bezirk Stockholm?“

„Reichsweit. Sie hat auch keine Tuberkolose-Lymphozyten. Bei ihrem Jahrgang können wir sicher sein, dass sie nicht in einem Krankenhaus in Europa geboren wurde. Da hätte man sie nach der Geburt geimpft.“

„Das ist in der Tat ein Problem“, bestätigte Sofi. Dabei stellte sie unauffällig ihre Schuhe auf den Boden und schlüpfte hinein.

In ihrer Zeit bei der Polizei war es erst einmal vorgekommen, dass die Rechtsmediziner die Identität einer Leiche nicht in wenigen Stunden herausfinden konnten, und das war im letzten Jahr gewesen, als eine junge Frau aus dem Fenster der Tochter des Justizkanzlers gefallen war. Es hatte an der komplexen Herkunft der Frau gelegen.

„Und woher könnte sie stammen? Habt ihr den mtDNA-Test schon gemacht?“

„Eigentlich beginnt das Problem erst hier“, sagte Suunaat mit ihrer monotonen grönländischen Satzmelodie.

Hans nickte. „Wir sind jetzt mit der zweiten Schnelltestreihe durch, aber immer endet die Sache ohne Ergebnis.“

„Okay. Bis wann habt ihr eines?“

„Eigentlich beginnt das Problem erst hier“, wiederholte Suunaat mit derselben monotonen grönländischen Satzmelodie.

Und Hans nickte wieder. „Das Ergebnis lautet, dass es kein Ergebnis gibt. Es ist also keine Frage der Zeit. Wir haben die betreffenden Abschnitte im Mitochondriengenom zweimal sequenziert und mit der Normsequenz verglichen. Normalerweise lässt sich die Person damit immer lokalisieren, in diesem Fall aber nicht.“

„Und jetzt?“

„Wir machen Kontrollserien mit anderen Abschnitten in der mtDNA.“ Hans nahm das Röntgenbild vom Tisch und hielt es vor die Deckenlampe. „Beim Aufprall wurde der Kiefer stark beschädigt. Ein partielles Zahnbild haben wir dennoch bekommen. Für Schweden und Dänemark kann ich gleich absagen, das gilt auch für die Blutuntersuchung. Für den Rest Europas dürfen wir nicht vor Montag mit einer Antwort rechnen.“

„Und die Isotope?“

Hans schüttelte den Kopf. „Das machen wir, aber ohne die Mitochondrien führen uns die Isotope nicht weit.“

„Okay, was willst du jetzt machen, wenn die Mitochondrien nun mal nicht mit dir sprechen wollen?“

„Wir haben die Probe nach Linköping geschickt, weil wir den Verdacht haben, dass uns irgendein Fehler unterlaufen sein muss.“

„Fehler ist unwahrscheinlich“, knurrte Suunaat.

03 - Der kopflose Engel
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